Am zweiten Weihnachtstage
(Stephanus)
von Annette von Droste-Hülshoff
Jerusalem, Jerusalem!
Wie oft erschollen ist sein
Ruf;
Du spieltest sorglos unter dem
Verderben,
unter Rosses Huf
Und Rades Wucht. Schau, darum ist
Verödet deine Stätte worden,
Und du ein
irres Küchlein bist,
Sich duckend unter
Geierhorden.
Vorüber ist die heil'ge Zeit,
Wo deine Sinne
ihn erkannt;
Noch seiner Wunder Herrlichkeit
Zieht
nur als Sage durch das Land.
Der Weise wiegt sein
schweres Haupt,
Der Tor will dessen sich
entschlagen,
Und nur die fromme Einfalt glaubt
Und
mag die Opfergabe tragen.
O bringt sie nur ein willig Tun,
Ein treues
Kämpfen zum Altar,
Dann wird auf ihr die Gnade
ruhn,
Ein hohes Wunder immerdar.
Doch bleibt es
wahr: der Gegenwart
Gebrochen sind gewalt'ge
Stützen,
Seit unsren Sinnen trüb und hart
Verhüllt ward seiner Zeichen Blitzen.
War einst erhellt der schwanke Steg,
Und klaffte
klar der Abgrund auf,
Wir müssen suchen unsren
Weg
Im Heiderauch ein armer Hauf.
Des Glaubens
köstlich teurer Preis
Ward wie gestellt auf
Gletschers Höhen;
Wir müssen klimmen
über Eis
Und schwindelnd uns am Schlunde
drehen.
Was, Herr, du ließest fort und fort,
Hat in
die Seele wohl gebrannt;
Doch bleibt es ein
geschriebnes Wort,
Unsichtbar die lebend'ge Hand.
Ach, nur wo Grübeln nicht und Stolz
Am Stamme
nagt seit Tag und Jahren,
Blieb frisch genug das
mark'ge Holz,
Frei durch Jahrtausende zu fahren.
So ist es, wehe, schrecklich wahr,
Daß
Mancher, der zum starken Mast
Geschaffen, in der Zeit
Gefahr
Die Glaubenssegel hat gebraßt,
Nun
dürre Säule nackt und schwer
Nur krachend
kündet durch das Wehen,
Hier sei in Zweifels
schwarzem Meer
Ein mächtig Schiff am
Untergehen.
O sende, Retter, deinen Blitz,
Der ihm den frommen
Hafen hellt,
Da einst der starke Mast als Sitz
Der
Pharuslampe sei gestellt.
Es trägt Gebirge ja dein
Land,
Wo Cedern sich zu Cedern einen;
Laß
nicht ein Sturmlicht den Verstand
Und einen Fluch die
Kraft erscheinen!
Als Stephanus mit seinem Blut
Besiegelte den
Christussinn,
Da legten Mörder, heiß vor
Wut,
Zu eines Jünglings Füßen hin,
Der stumm und finster sich gesellt,
Die Kleider
staubig, schweißbefeuchtet:
Und der ward Paulus,
Christi Held,
Des Strahl die ganze Welt
durchleuchtet.